Heute findet in Berlin die GDV-Konferenz zur Versicherungsregulierung statt. Deutsche und Brüsseler Umweltorganisationen nehmen dies zum Anlass, den Lobbyverband sowie Konferenzteilnehmer*innen aus Politik und Versicherungsindustrie zu deutlich stärkeren Klimaschutzmaßnahmen aufzurufen. urgewald, ShareAction und Insure Our Future unterstreichen hierbei die hohe Bedeutung der Solvency II-Überarbeitung. Sie wird gerade im ECON Komitee des Europaparlaments debattiert. Nach Monaten der Verzögerung ist am Freitag ein Kompromissvorschlag an die Presse (POLITICO) gespielt worden. Dieser beinhaltet aber nur kleine Gewinne für den Klimaschutz. Die NGOs kritisieren insbesondere den Berichterstatter von Solvency II im Europaparlament, Markus Ferber (CSU), der heute als Sprecher auf der GDV-Konferenz auftreten wird. Er gilt als Gegner nachhaltigkeitsbezogener Änderungen in Solvency II.
Die Austrittswelle bei der Net Zero Insurance Alliance (NZIA) hat erneut deutlich gemacht, dass freiwillige Klimaschutzverpflichtungen der Wirtschaft Gesetzesmaßnahmen nur flankieren, jedoch nicht ersetzen können (lesen Sie hierzu auch ein Briefing von ShareAction). Vor diesem Hintergrund kommt der derzeitigen Überarbeitung von Solvency II eine noch größere Bedeutung zu: Klimabezogene Risiken müssen endlich ausreichend in der Versicherungsregulierung berücksichtigt werden. Der Prozess der Solvency II-Überarbeitung hat in Brüssel einen kritischen Moment erreicht und steht kurz vor der Finalisierung im EU-Parlament.
Lindsay Keenan, Europäischer Koordinator, Insure Our Future:
„Die EU-Gesetzgeber müssen jetzt einschreiten und den Versicherungssektor stärker mit Blick auf den Klimaschutz regulieren. Selbstverpflichtungen sind für sich genommen nicht ausreichend – wie die NZIA-Austritte wieder deutlich gemacht haben. Es darf jetzt auf keinen Fall ein Einknicken vor der Lobby der Versicherungsbranche geben. Die Solvency II-Überarbeitung ist eine historische Gelegenheit, die nicht verpasst werden darf. EIOPA, die EZB, die EU-Kommission und die International Association of Insurance Supervisors sind sich alle einig: Klimarisiken und Risiken von ‚Stranded Assets‘ stellen materielle Finanzrisiken dar. Es wäre daher wider besseres Wissen, wenn dies nicht in Solvency II berücksichtigt würde.“
Allerdings lässt der jetzt bekannt gewordene interne Kompromissvorschlag der Schattenberichterstatter*innen vom ECON Komitee befürchten, dass diese historische Gelegenheit nicht genutzt werden wird. So sind erhöhte Kapitalanforderungen, die NGOs wiederholt für die Versicherung von neuen fossilen Energieprojekten und entsprechende Investitionen gefordert haben, nicht im Kompromissvorschlag zu finden. Unter anderem hatten NGOs Ende letzten Jahres gemeinsam mit dem Bund der Versicherten (BdV) hierzu einen Brief an EU-Parlament und -Rat verschickt. Bereits mehr als 57.000 europäische Bürger*innen haben auch eine entsprechende Ekō-Petition unterschrieben. Die NGOs rufen alle Mitglieder des ECON Komitees dazu auf, das Risiko von „Stranded Assets“ durch die fortschreitende Energiewende im Rahmen der Solvency II-Überarbeitung unbedingt zu berücksichtigen. Die höchste Risikokategorie muss für neue fossile Energieprojekte gewählt und die „One-For-One-Regel“[1] implementiert werden.
Zwar begrüßen die NGOs grundsätzlich die verpflichtenden Transformationspläne für Versicherer, die jetzt in dem Kompromissvorschlag enthalten sind und ursprünglich von den Grünen, Linken, S&D und Renew vorgeschlagen worden waren. Sie werten dies auch als Teilerfolg der Zivilgesellschaft. Allerdings muss das ECON Komitee sicherstellen, dass EU- oder nationale Aufsichtsbehörden die Transformationspläne auch streng und kontinuierlich kontrollieren. In Fällen von Greenwashing und/oder Umsetzungsschwächen müssen klare Sanktionsmechanismen greifen. Nur so kann sich die Versicherungsbranche wirklich einheitlich und konsequent auf den Weg zur Erreichung von Netto-Null-Zielen für 2050 machen. Zudem werden die verpflichtenden Transformationspläne so eine wichtige Rolle beim Risikomanagement spielen können und es Aufsichtsbehörden ermöglichen zu überprüfen, ob Versicherer aktiv Stranded-Asset-Risiken managen.
Die NGOs appellieren speziell an den CSU-Europaabgeordneten Markus Ferber, Berichterstatter für die Überarbeitung von Solvency II und Sprecher auf der heutigen GDV-Konferenz: Er muss jetzt seinen Widerstand gegen ausreichende Klimaschutzregulierung von Versicherern aufgeben. Zu lange schon hat er seine Position als Berichterstatter missbraucht. So hatte er gleich zu Beginn des Solvency II-Überarbeitungsprozesses nahezu alle Nachhaltigkeitsaspekte inklusive klimawandelbezogener Szenarioanalysen aus dem Gesetzesvorschlag der EU-Kommission gestrichen. Durch seine offiziellen Änderungsvorschläge wurde damit die Latte für die weitere Diskussion bewusst sehr niedrig gehängt. Er ist auch anderen Pflichten als Berichterstatter bisher nicht nachgekommen, wie beispielsweise der Einberufung eines Solvency II-Stakeholder-Treffens.
Caroline Metz, Senior EU Policy Officer, ShareAction:
„Wir fordern von Markus Ferber, dass er endlich Verantwortung übernimmt und konstruktiv mit denjenigen Abgeordneten des Europaparlamentes zusammenarbeitet, die im letzten Sommer gute nachhaltigkeitsbezogene Vorschläge zur Überarbeitung von Solvency II gemacht hatten. Seichte Kompromisse sind nicht akzeptabel. Herr Ferber und alle Mitglieder des ECON Komitees müssen jetzt sicherstellen, dass der Vorschlag zu verpflichtenden Transformationsplänen kein zahnloser Tiger ohne Kontroll- und Sanktionsmechanismen bleibt. Darüber hinaus muss die Überarbeitung von Kapitalanforderungen für Versicherer mit Blick auf Klimarisiken dringend weitergehen. Hier gibt es einen großen Nachholbedarf: Wenn neue fossile Energieprojekte versichert werden oder in sie investiert wird, bedroht dies nicht nur die Stabilität des Finanzsystems, sondern auch unseren Planeten und Menschen weltweit.“
Auch der Konferenzveranstalter GDV hat jüngst zu mehr Klimaschutzmaßnahmen aufgerufen und vor den Auswirkungen des Klimawandels für die Versicherungsbranche und ihre Kund*innen gewarnt. Grundsätzlich teilen die Umweltorganisationen zwar diese Einschätzung des GDV. Allerdings kritisieren sie die daraus resultierende Forderung des Lobbyverbandes, dass die deutsche Bundesregierung bei „extreme[n] Naturkatastrophen“ im Rahmen einer sogenannten Stop-Loss-Regelung einspringen soll. Dies steht im Widerspruch dazu, dass es in der Versicherungsbranche immer noch unzureichende Ausschlusskriterien für fossile Projekte und Unternehmen gibt, wie die Insure Our Future Scorecard zeigt. So hat gerade erst eine Recherche von Greenpeace Norwegen und urgewald gezeigt, dass führende Versicherer, darunter Allianz und HDI Global, an der Absicherung der fossilen Industrie in Norwegen beteiligt sind. Die Allianz-Töchter AGI und Pimco fallen beispielsweise auch immer wieder durch hohe fossile Investitionen auf, wie hier in einem neuen Bericht von Reclaim Finance und urgewald.
Anna Lena Samborski, Versicherungs-Campaignerin, urgewald:
„Die Versicherungsbranche scheint sich von allen Kosten und Risiken im Zusammenhang mit der Klimakrise befreien zu wollen. Sie lobbyiert aktiv für Steuergelder, um eigene Profiteinbußen durch Naturkatastrophen zu vermeiden, versichert aber weiterhin fossile Projekte und Unternehmen oder investiert in sie. Diese sind allerdings die Haupttreiber der Klimakrise, die sich unter anderem in einer erhöhten Frequenz von Extremwetterereignissen zeigt, womit sich der Kreis schließt. Die Versicherer müssen endlich eine klare rote Linie bei den Fossilen ziehen, gleichermaßen auf Projekt- wie Unternehmensebene.“ Sie fügt hinzu: „Es kann nicht sein, dass die Zivilgesellschaft die Versicherer immer wieder an ihre Verantwortung als Risikomanager der Gesellschaft in Bezug auf die Klimakrise erinnern muss. Da der Menschheit die Zeit zum Handeln davonläuft, fordern wir daher stärkere klimabezogene Gesetzesregelungen für die Branche. Hier muss die jetzige Überarbeitung von Solvency II einen deutlichen Schritt nach vorne bringen.“
Hinweis:
Proteste von urgewald und Insure our Future werden gleich vor dem Veranstaltungsort der GDV-Konferenz (Stralauer Allee 2, 10245 Berlin) von 9:00 bis 10:30 Uhr stattfinden. Fotos werden dann ab etwa 11:00 Uhr hier zu finden sein.
Weiterführende Links und Fußnoten:
https://shareaction.org/news/what-is-solvency-ii-and-why-does-it-matter
[1] „One-For-One-Regel“: Versicherungen müssten für jeden Euro/Dollar, mit dem neue fossile Energieprojekte versichert werden bzw. der in sie investiert wird, einen Euro/Dollar in Reserve halten, um etwaige zukünftige Verluste, speziell durch „Stranded Assets“, zu decken. Versicherer müssten also ihr eigenes Sicherheitsnetz aufbauen, statt sich auf staatliche Rettung zu verlassen. Damit würde die Unterstützung neuer Kohle-, Öl- und Gasprojekte sehr unattraktiv.